Was ist los an der Oberschule am Goldbach?
Dr. Peter Schmidt berichtet vor Hunderten in der Oberschule Langwedel über Autismus
Langwedel – Als sein Lehrer dem Jungen riet, sich in der Klasse stärker durchzubeißen, nahm der das wörtlich und biss einem Mitschüler in den Arm. Ein besonderer Horror war damals für Schüler Peter Schmidt zudem die „Reise nach Jerusalem“, bei es darauf ankommt, sich in einer Stuhlrunde schnell einen Platz zu sichern, weil es einen Stuhl weniger als nötig gibt.
Das Geschubse und der dauernde Kontakt mit anderen störte Peter so sehr, dass er mehr als heftig zurückschubste und als Strafe dafür „in der Ecke stehen“ musste. Diese wiederum empfand er als Belohnung, da er jetzt aus der Distanz heraus das Geschehen verfolgen konnte.
Diese und weitere Erlebnisse schilderte der heute 56-jährige Dr. Peter Schmidt in seinem reich bebilderten Vortrag im bis zum Bersten gefüllten Forum der Langwedeler Oberschule, um zu verdeutlichen, wie autistische Menschen die Welt sehen.
Der studierte Geophysiker, international erfahrene IT--Experte und Buchautor aus dem Landkreis Peine ist selber betroffen. Das Asperger-Syndrom, eine meistens mildere Form von Autismus, wurde bei ihm aber erst im Alter von 41 diagnostiziert. „Ich war davor ein Leben lang Autist, ohne es zu wissen“, stellte er fest.
„Ich glaube, Sie sind Autist“, hatte ein Vorgesetzter ihm gegenüber schließlich klar geäußert und zur genaueren Untersuchung geraten. Als der Wissenschaftler sich per Google über „Asperger“ näher informierte, war ihm sofort klar: „Das hast Du auch“. Selten habe er so sehr geweint, wie danach.
Autisten hätten grundsätzlich ein andersartiges Kommunikations- und Sozialverhalten, machte er deutlich. Das wörtliche Verstehen von Äußerungen wie beim „Durchbeißen“ etwa führe leicht zu Missverständnissen. Gesichtsausdrücke anderer seien schwer zu deuten: „Wenn zum Beispiel jemand traurig ist, aber keine Tränen übers Gesicht laufen, erkennen wir diese Stimmung nicht.“
Das Wiedererkennen von Personen sei eingeschränkt. Lärmempfindlichkeit sowie die Wichtigkeit fester Strukturen und bestimmter, wiederkehrender Rituale hob der Referent ebenfalls als Bestandteile der autistischen Welt hervor. Würden verlässliche Strukturen gestört, reagierten autistisch geprägte Menschen auf das vermeintliche Chaos entweder mit Wutanfällen oder zögen sich völlig in sich selbst zurück.Zwischenmenschliche Kommunikation entfaltet sich laut Untersuchungen zu 80 Prozent auf der Beziehungs- und zu 20 Prozent auf der Sachebene, erläuterte Schmidt. Bei Autisten falle der erste Bereich mehr oder weniger weg. Während er in Fächern mit sehr klarem Rahmen und Festlegungen wie Mathematik oder bei Diktaten stets Bestnoten bekam, fiel ihm das Schreiben von Aufsätzen schwer. Als es dabei um schönste Ferienerlebnisse ging, habe er im Wesentlichen die bei der Hin- und Rückfahrt genutzten Straßen aufgezählt. Im Bereich Digitales und Computer wiederum war er stets topfit.
Straßen sind neben Autokennzeichen und Sammeln von Kakteen das besondere Hobby oder auch Besessenheiten des 56-Jährigen.
Schon die Gänge der Schule habe er damals als Straßen wahrgenommen, sei immer auf der rechten Seite gegangen und habe sogar entgegenkommende Schüler angerempelt, die sie sich selber nicht an diese Regel hielten. Weitere Interessengebiete Peter Schmidts sind nach seinen Angaben: Wüsten und Vulkane.
Beim Umgang mit autistischen Menschen seien einige Punkte besonders zu beachten, fasste er abschließend zusammen. So müssten die Betreffenden „dort abgeholt werden, wo sie stehen“. Es dürfe ihnen „nichts aufgezwungen werden, was sie niemals sein werden“. Für ein Ziel motiviert würden sie nur aus eigenem, inneren Antrieb heraus. Deshalb sei es wichtig, ihnen den Nutzen verschiedener Regeln, Lerninhalte oder auch Verboten immer persönlich nahe zu bringen.
„Verbote habe ich akzeptiert, wenn ich sie für vernünftig hielt“, betonte Schmidt. Autisten etwas mit Druck zu vermitteln, führe jedoch schnell zu völliger Blockade oder komplettem Rückzug auf sich selbst.
Von Heinrich Laue